Was ist Achromatopsie?

Achromatopsie, oder auch Achromasie, bedeutet totale Farbenblindheit. Im Englischen sagt man achromatopsia oder achromatopia, im Französichen ist es l'achromatopsie oder le daltonisme und im Niederländischen ebenfalls achromatopsie. Eine Person, die Achromatopsie hat, wird auch Achromat genannt.

Bei dem bekannten Begriff der Farbenblindheit handelt es sich in den meisten Fällen um Rot-Grün-Blindheit. Diese Form der Farbenblindheit kommt relativ häufig vor (bei ca. 4% der Männer und 0,4% der Frauen), sie ist aber nicht mit Achromatopsie zu vergleichen.

Die Zahl der in Deutschland lebenden Achromaten wird auf ungefähr 3000 geschätzt.

  

Netzhaut

In der Netzhaut eines normalen Auges befinden sich zweierlei Sorten lichtempfindlicher Zellen: Die Stäbchen und die Zapfen. Sie haben unterschiedliche Funktionen.

Die Zapfen können Farben unterscheiden. Im Zentrum der Netzhaut (dem gelben Fleck) befinden sich ausschließlich Zapfen, in großer Anzahl und Dichte. Dadurch kann ein Normalsichtiger im Zentrum seines Gesichtsfeldes sehr scharf sehen. Doch die Zapfen arbeiten nur dann gut, wenn eine ausreichende Menge Licht vorhanden ist. Im Dämmerlicht können die Zapfen nichts mehr wahrnehmen.

In der Dämmerung werden die Stäbchen aktiv. Sie sind lichtempfindlicher als die Zapfen und zusätzlich noch in Gruppen zusammengeschaltet, so daß noch mehr Signalintensität zum Gehirn geleitet werden kann. Im Gegensatz zu den Zapfen können die Stäbchen jedoch keine Farben unterscheiden. Außerdem befinden sich keine Stäbchen im gelben Fleck, wo man am schärfsten sehen kann.  

Ein Achromat hat keine oder keine funktionsfähigen Zapfen in seiner Netzhaut. Dadurch kann er keine Farben sehen, er kann nicht so scharf sehen, vor allem nicht im gelben Fleck, und er ist empfindlich für zuviel Licht. Eine umfassendere Beschreibung der Sehwahrnehmung eines Achromaten ist zu finden unter Sehen mit Achromatopsie.

  

Vererbung

Achromatopsie ist erblich und folgt einem autosomal rezessiven Erblichkeitsschema. Die Möglichkeit, daß ein Elternpaar ein Kind mit Achromatopsie bekommen kann, besteht also nur dann, wenn beide Eltern Träger des Gens für Achromatopsie sind.

Der häufigste Fall ist, daß beide Elternteile selbst keine Achromatopsie haben, aber Träger des Gens sind. In diesem Fall ist die Wahrscheinlichkeit, daß eins ihrer Kinder Achromatopsie hat, 25%. Ein Elternteil mit Achromatopsie und eines ohne das Achromatopsie-Gen können nur Träger des Gens bekommen, aber keine Kinder mit Achromatopsie. Ein Elternteil mit Achromatopsie und ein Träger haben eine Wahrscheinlichkeit von 50%, daß eins der Kinder Achromatopsie hat.

Chromosomen

Jeder Mensch trägt sein Erbgut in jeder Zelle seines Körpers, auf den Chromosomen. Die Chromosomen kommen immer paarweise vor und der Mensch hat 23 solcher Chromosomenpaare. Eines davon besteht aus den Geschlechtschromosomen, XX (männlich) oder XY (weiblich). Wenn ein Kind entsteht, kommt für jedes neue Chromosomenpaar des Kindes ein Chromosom vom Vater und eins von der Mutter. Das Kind hat also wieder 23 Chromosomenpaare, wovon die Hälfte vom Vater und die Hälfte von der Mutter stammt.

Autosomal

"Autosomal" erblich bedeutet, daß die Vererbung nicht an die Geschlechtschromosomen (X oder Y) gekoppelt ist. Dies ist bei Achromatopsie der Fall. Andere Arten der Farbenblindheit dagegen sind an die Geschlechtschromosomen gebunden, diese kommen vor allem bei Männern vor.

Rezessiv

Wenn ein erbliches Merkmal wie Achromatopsie "rezessiv" vererbt wird, so bedeutet das, das jemand nur dann wirklich Achromatopsie hat, wenn sich das Gen für Achromatopsie auf beiden Chromosomen des betreffenden Chromosomenpaares befindet. Sitzt das Gen nur auf einem der beiden Chromosomen, dann hat er keine Achromatopsie, ist aber Träger des Gens.

Beispiel: Wenn A ein Chromosom ist mit dem Achromatopsie-Gen und O das zugehörige Chromosom ohne das Achromatopsie-Gen, dann bedeutet dies für die Chromosomenpaare:

    OO hat keine Achromatopsie und ist kein Träger des Gens
    OA hat keine Achromatopsie, ist aber Träger des Gens
    AO dito (die Reihenfolge spielt also keine Rolle)
    AA hat Achromatopsie und ist damit auch Träger des Gens

Wahrscheinlichkeit

Es gibt vier Möglichkeiten, die beiden Chromosomenpaare der Eltern zu einem neuen Chromosomenpaar des Kindes zu kombinieren. Dabei muß immer ein Chromosom vom Vater und eins von der Mutter stammen. Sind die Chromosomenpaare der Eltern also z.B. AB und CD, dann können daraus die Kombinationen AC, AD, BC und BD gebildet werden.

Im folgenden Schema sind die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten aufgelistet, die es gibt, wenn die Eltern eines Kindes entweder Träger des Achromatopsie-Gens sind, oder nicht, oder selbst Achromatopsie haben. Der Klarheit halber sind die Chromosomen eines Elternteiles normal und die des Anderen fett geschrieben.

Ein Elternteil ist Träger (OA) und das Andere nicht (OO):

    keine Kinder mit Achromatopsie,
    50% Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind Träger ist

    OO + OA -> OO (keine Achromatopsie, kein Träger)
    OO + OA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OO + OA -> OO (keine Achromatopsie, kein Träger)
    OO + OA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)

Beide Eltern sind Träger (OA):

    25% Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Achromatopsie,
    75% Wahrscheinlichkeit, daß ein Kind Träger ist

    OA + OA -> OO (keine Achromatopsie, kein Träger)
    OA + OA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OA + OA -> AO (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OA + OA -> AA (sowohl Achromatopsie als auch Träger)

Ein Elternteil ist Träger (OA) und das Andere hat Achromatopsie (AA):

    50% Wahrscheinlichkeit für ein Kind mit Achromatopsie,
    alle Kinder sind Träger

    OA + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OA + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OA + AA -> AA (sowohl Achromatopsie als auch Träger)
    OA + AA -> AA (sowohl Achromatopsie als auch Träger)

Ein Elternteil hat Achromatopsie (AA) und das Andere nicht und ist kein Träger (OO):

    keine Kinder mit Achromatopsie,
    alle Kinder sind Träger

    OO + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OO + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OO + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)
    OO + AA -> OA (keine Achromatopsie, aber Träger)

Das war die Theorie. In der Praxis funktioniert es auch so, aber es gibt insgesamt nur sehr wenige Träger des Achromatopsie-Gens. Deshalb ist die Wahrscheinlichkeit, daß zwei Träger zufällig ein Paar werden und Kinder bekommen, sehr klein. Nur auf einigen abgelegenen Inseln in Mikronesien kommt das Gen heute noch häufiger vor, daher gibt es dort auch deutlich mehr Menschen mit Achromatopsie (siehe auch "Die Insel der Farbenblinden" in Literatur). Bis zur ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war dies auch auf der dänischen Insel Fur der Fall.

  

Diagnose

Weil viele Augenärzte noch nie von Achromatopsie gehört haben, geschweige denn schon mal einen Patienten mit Achromatopsie gesehen haben, kommt es oft vor, daß Achromatopsie nicht korrekt diagnostiziert wird. Die einzelnen Symptome für sich können auch bei anderen Augenabweichungen vorkommen und dies führt zu Fehldiagnosen, die oft nie korrigiert werden. Darum wird angenommen, daß von einem großen Teil der Achromaten in Deutschland oder anderswo gar nicht bekannt ist, daß sie Achromatopsie haben.

Vier Symptome, in Kombination miteinander, sind typisch für Achromatopsie: Vollständige oder fast vollständige Farbenblindheit, Nystagmus (Augenzittern), Überempfindlichkeit für Licht und eine geringe Sehschärfe.

Zur Untersuchung des Farbensehens sind mittlerweile viele Testmethoden entwickelt worden, die man jeweils ab einem bestimmten Lebensalter durchführen kann. Im einfachsten Fall handelt es sich um Farbtafeln, die z.B. sortiert werden sollen, aber es kann auch ein aufwendiges Elektroretinogramm (ERG) sein. Dabei werden dem Patienten dünne, weiche Elektrodendrähte in die Augen gelegt und Elektroden auf die Stirn geklebt. In einem dunklen Raum werden die Augen verschiedenartigen Lichtblitzen ausgesetzt und die elektrischen Signale gemessen, die von der Netzhaut als Reaktion zum Gehirn gesendet werden.

Ein Nystagmus ist leicht zu erkennen, weil die Augen des Patienten schnell und unregelmäßig seitlich hin und her zittern. Unter Umständen ist der Nystagmus verringert, wenn die Augen unter einem bestimmten Winkel stehen (Kopfzwangshaltung beim Lesen).

Überhöhte Lichtempfindlichkeit ist ebenfalls leicht fest zu stellen. Wenn die Beleuchtung zu hell ist, sieht ein Achromat nur noch nebliges weiß oder grau. Diese Blendung ist meist nicht mit Schmerzen verbunden. Bei gedämpftem Licht oder mit dunklen Sonnengläsern oder Kontaktlinsen werden die Kontraste besser.

von Martijn Reneman
Menschen mit Achromatopsie haben in der Regel eine niedrige Sehschärfe, ungefähr 10% der normalen Schärfe. Dies ist gut meßbar und im Normalfall, zusammen mit der Lichtempfindlichkeit, das auffälligste Symptom für einen Augenarzt. Nach meiner Erfahrung führt die niedrige Sehschärfe aber auch immer wieder zu Verwirrung. Es kommt vor, daß ein Arzt einfach nicht versteht, daß die Sehschärfe auch mit einer Brille nicht (viel) besser wird. Bei der Musterung für den Militärdienst wurde ich sogar des Betruges verdächtigt. Jeder verfügbare Arzt wurde herbeigeholt und ich mußte den Test mehrere Male wiederholen. Eine Brille und trotzdem nicht in die Ferne sehen können, das stand nicht in den Lehrbüchern und deshalb konnte es auch nicht sein (dies war im Jahr 1969).

  

Therapie

Es gibt für Achromatopsie keine Therapie, weil sie ein angeborener, nicht reparabler Defekt der Netzhaut ist. Das einzige, das man als Betroffener tun kann, ist zu lernen, wie man am besten mit den Einschränkungen durch die Achromatopsie umgehen kann, und welche Sehhilfen nützlich sind. Abhängig von der jeweiligen Situation steht eine große Anzahl von Hilfsmitteln zur Verfügung, die das Leben sehr erleichtern können.